Hier entsteht ein Buch

The Way Of Destiny - 1. Das Waisenhaus (Teil II)

Hombré Donnerstag, 28. Februar 2013 No comments

Der Türke war seltsamer Weise der einzige seiner Landesangehörigkeit hier im St. Inkebude. Seinen richtigen Namen kannte keiner. Er war von Grund auf einfach immer schon der Türke gewesen. Seine Eltern kamen bei einem Sprengstoffattentat ums Leben, das einem palästinensischen Ministers gegolten hatte. Damals war der Türke fünf und ein Mädchen aus der Nachbarschaft hatte auf ihn aufgepasst. Wenn er jemandem von dem Tod seiner Eltern erzählte, sagte er immer, dass er die Vibration der Explosion gespürt habe und sofort gewusst hätte, dass etwas Schlimmes passiert sei. Er machte sich irgendwie selbst für das Schicksal seiner Eltern verantwortlich, da sie das Mädchen nur geholt hatten, weil er die Tage zuvor oft mit seinen Freunden in Streit geraten war und auch zu hause nur Unfug anstellte. An dem Tag gab er sich dann aber besonders stur und aufmüpfig, weshalb seine Eltern erst eine halbe Stunde zu spät wegkamen. Eine Verspätung, die sie das Leben kostete.
            John war der fünfte im Bunde. Nach dem Autounfall vor drei Jahren steckte man ihn in dieses Waisenhaus, wo er anfing sich eine kilometer hohe Mauer um sein Herz zu bauen. Niemals wieder in seinem ganzen Leben wollte er solch einen Schmerz verspüren. Die ersten Wochen war er überhaupt
nicht ansprechbar. Still schweigend lag er in seinem Bett und starrte den abgebröckelten Putz an der Decke an. In ihm herrschte nichts als gähnende Leere. Als wäre nicht das Leben seiner Eltern, sondern sein eigenes beendet worden. John fühlte sich wie in einem bösen Traum. Doch wie sehr er sich auch einredete, dass das alles nicht passiert sei und er nur aufwachen bräuchte und schon wäre alles wieder gut – er wachte nicht auf. Seine Eltern waren tot. Und er musste jetzt damit klar kommen.
            Mit der Zeit fügte er sich allmählich in sein neues Umfeld ein. Er lernte mit den anderen Kindern hier umzugehen und nahm an den Unterrichtsstunden teil. Wenn man einmal von seiner nicht vorhandenen Mitarbeit dort absah, machte er sich eigentlich gar nicht schlecht. John war ein klug und zeigte Geschick dafür Zusammenhänge ziemlich schnell zu begreifen. Nur wollte er das selten zeigen. Er ging wie ein Roboter durch die verdreckten Gänge des Waisenhauses. Sein gezogener Schutzwall ließ keinerlei Emotionen nach draußen. Niemand konnte ahnen, wie es in ihm drinnen aussah.
            Es schien ihm einfach alles egal zu sein. Und so kam er auch in Martins Clique. Die anderen vier kümmerten sich nämlich genauso wenig um das, was der Rest der Welt von ihnen hielt und zogen stattdessen ihr eigenes Ding durch. Es war im Grunde genommen nur eine Frage der Zeit gewesen. Irgendwann hielt John es nicht mehr aus. All das, was er in seinem Innern anstaute, die schmerzlichen Verlusterfahrungen und die Leere in seinem Kopf, die sich immer weiter mit Hass füllte. Hass auf alles und jeden. Hass auf das Leben selbst. Auf das Schicksal. All das rüttelte an den kalten Mauern um sein Herz und irgendwann, ganz unten, am Fuße seiner Festung, tat sich eine Tür auf. Eine Tür in ein neues Leben.
            Pascal, Eriks kleiner Bruder, war es, der sich an einem Nachmittag, als die anderen Kinder draußen auf dem Hof spielten und nur Martins Clique und John drinnen geblieben waren, zu ihm setzte. John lag allein auf seiner Matratze und schien gedankenverloren zwei Fliegen zu beobachten, die es auf dem von Rost überzogenen Metallrahmen seines Bettes
wild miteinander trieben. „Hallo.“ John rührte sich nicht. „Ich bin Pascal. Eriks kleiner Bruder. Weißt du? Das ist der da drüben mit den langen schwarzen Haaren.“ Er zeigte in Richtung der anderen. Immer noch keine Reaktion. „Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du nicht zu uns rüber kommen willst? Weil ich hab dich immer nur alleine sitzen sehen. Und ich meine, jeder brauch doch irgendwie Freunde, oder?“ John blickte auf. Erik lächelte ihm entgegen. Er hasste es. Wie konnten die Kinder hier bloß alle damit klar kommen? Warum konnte er es nicht?
            Nie wieder, würde sein Vater die Tüte Popcorn aufreißen, die er in der Mikrowelle gemacht hatte, wenn sie Freitagabends auf dem Sofa saßen und Fernsehen guckten. Nie wieder würde seine Mutter ihm sein Pausenbrot schmieren und ihn daran erinnern, es diesmal auch wirklich zu essen. Keiner würde ihm mehr antworten, wenn er zu Hause ankam und lauthals bekündete, dass er jetzt da sei. Aber er hatte ja nicht mal mehr ein zu hause. Die Mietwohnung, in der sie gelebt hatten, reite sich langsam in die Reihe der Dinge ein, die in seinen Gedanken Platz machen mussten, für Selbsthass und Trostlosigkeit. John verfluchte sich. Und seine Eltern. Wie konnten sie ihn so im Stich lassen?
            An all das dachte er, während er Erik in die Augen blickte. „Ach, scheiß drauf“, sagte er, stand auf und ging zu den anderen rüber.
            „Uääh.“ „Er hat’s tatsächlich getan.“ Martins Gesicht verriet, dass es keine Freude gewesen sein musste. „Einmal und nie wieder“, verkündete er triumphierend. „Das nächste Mal hätte ich gern nen edleren Tropfen.“ Er grinste. Der Rest auch. Zwanzig Minuten später setzten die Magenkrämpfe ein.

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